Spitzengastronomie trifft Stallgeruch: Tavolata auf einer Tessiner Ziegenalp
Eine Alp im Tessin bewirtet 25 Gäste an einem langen Holztisch auf der Wiese. Die Tavolata der Alpe Soladino bringt Menschen zusammen. Ein Erlebnis zwischen Agrotourismus, Landwirtschaft & Kulinarik.

Für dieses Nachtessen muss ich mich anstrengen. Es sind zwar nur fünf Kilometer hinauf zur Ziegenalp, aber die haben es in sich. Nach einem Sommergewitter ist es drückend heiss wie in einer Sauna.
Zuerst balanciere ich über die 380 Meter lange Passerella Someo – die längste Hängebrücke im Tessin – über die Maggia. Dann geht es rund 800 Höhenmeter hinauf zur Alpe Soladino in einem Seitental des Valle Maggia.
Der Pfad führt durch einen Buchenwald steil hinauf. Die Luft riecht nach Moos und feuchtem Holz. Aber oben wartet ein gedeckter Tisch auf mich. Und was für einer – eine Tavolata.

Agrotourismus, Umweltbildung und Spitzengastronomie auf einer Ziegenalp im Tessin
Die Alpe Soladino liegt auf 1140 Metern und ist nur zu Fuss erreichbar. Sie wird seit 2018 von einer Gruppe junger Leute bewirtschaftet, die Ziegenhaltung, Agrotourismus und Umweltbildung sowie Spitzengastronomie mit einer traditionellen, saisonalen und nachhaltigen Landwirtschaft vereinen.
Das funktioniert nur mit zahlenden Gästen. Auf der Ziegenalp stehen seit Jahrhunderten sogenannte Rustici, Steinhäuser aus lokalem Granit. Mehrere dieser Rustici wurden wieder aufgebaut und zu einfachen Unterkünften für Gäste und das Alppersonal umfunktioniert.
Tagsüber besuchen die einen Gäste Kurse über nachhaltige Landwirtschaft, traditionelle Handwerkskunst, Tierhaltung und ökologisches Zusammenleben. Andere kommen ausschliesslich für die Tavolata auf die Alp.
Eine Tavolata ist mehr als nur eine Mahlzeit. Sie ist ein gemeinschaftliches Erlebnis an einem langen Tisch. In diesem Fall: ein sehr langer Tisch für 25 Gäste. Das Essen wird in grossen Schüsseln und Platten serviert, jeder bedient sich selbst. Beim Essen und Trinken entstehen anregende Gespräche in entspannter Stimmung.
Auf der Ziegenalp steht ein Spitzenkoch am offenen Feuer
Der einzige, der eher semi entspannt ist, steht am offenen Feuer vor einem Topf mit heissem Öl: Simon Schneeberger. Nach vielen Jahren im Kochberuf und Stationen in der Spitzengastronomie ist Simon als Störkoch mit dem Gastro-Konzept «I tavoli del vagabondo» unterwegs.
2025 vebringt Simon schon den zweiten Sommer auf der Alpe Soladino. «Damit kehre ich zu den Ursprüngen zurück. Zum Feuer, zur Verbundenheit mit der Natur und zu echter Handwerkskunst.»
Schon vor der Alpsaison hatte Simon im Bauerngarten der Alpe Soladino Gemüse wie Blumenkohl, Staudensellerie und Zucchini angebaut. Davon taucht er jetzt vorgegarte, mundgerechte Stücke in einen Backteig und frittiert sie dann im Akkord.
Die noch heissen Fritto misto die verdura bietet Sommelier Jan den Gästen mit einem Estragon-Dip an. Dazu serviert er im Quellwasser gekühltes Acqua pazza.

Acqua pazza – wenn schon der Aperitiv ein Statement ist
Acqua pazza («Verrücktes Wasser» oder französisch «Piquette») ist ein Zero-Waste-Getränk aus dem 19. Jahrhundert. Die (Win-)Bauern übergossen dafür den Trester (Pressrückstände) mit Wasser und liessen die Mischung einige Tage vergären. Fertig war das frische, prickelnde und leicht alkoholhaltige Erfrischungsgetränk.
«Bei der Tavolata sind unsere Gäste den lokalen Bauern, ihren saisonalen Lebensmitteln und der Erde so nah wie sonst wohl nirgends», erklärt Simon in einem ruhigen Moment seine Philosophie. Das beginnt schon beim ungewohnten Aperitiv, dem Acqua pazza.
25 Gäste sitzen mitten auf einer Alpwiese an einem langen Tisch
«Wir sind nicht verrückt, aber wir zeigen, dass Landwirtschaft auch anders geht», sagt Yasmin Spengler, Umweltingenieurin und Leitfigur auf der Alpe Soladino. Am Kopf der Tavolata stellt sie die Speisekarte auf, eine Schiefertafel von der Grösse einer Tischplatte.
Neugierig versammeln sich die Gäste vor der Speisekarte und suchen sich dann einen Platz am langen Holztisch, der mit Tellern, Quellwasser-Karaffen und farbenprächtigen Wiesenblumen geschmückt ist.

Die Tavolata bietet die zartesten Stücke vom Zicklein – aber auch exquisite vegetarische Spezialitäten
Dann kommt Simon vom Feuer im Küchen-Rustico hinaus zur Tavolata, die mitten auf der Wiese steht: Schon die beiden Fleisch-Gänge vom Fleisch der eigenen Ziegen sind eine Offenbarung. Das Gitzi-Gigot (Hinterbein oder Schlegel) ist mager, zart und fleischig – das beste Bratenstück vom Zicklein.
Der Halsbraten (Nacken) all’agliata (mit Knoblauch-Sauce) ist der ideale Kontrast zum Gitzi-Gigot. Das geschmorte Halsstück ist durchwachsener und damit saftiger und aromatischer als das Hinterbein. Es verbindet rustikalen Geschmack mit dem kräftigen, leicht würzigen und säuerlichen Knoblauch-Sauce.

Der einzige Vegetariar am Tisch kommt aber nicht zu kurz. Bei den pflanzlichen Gängen aus dem Bauerngarten der Alp greift er tüchtig zu. Etwa bei den Quark-Gnocchi und Hartweizenmehl mit Mutschli und Brennnesseln.
Mutschli – kleine, halbhart gereifte Käse aus Ziegen-Rohmilch – sind aber keine zu sehen. «Ich habe anstelle von Parmesan die Mutschli geraffelt und unter die Gnocchi-Masse gemischt», erklärt Simon. «Das gibt Herzhaftigkeit und Schmelz, ist zugleich bodenständig und raffiniert.»
Eine Erklärung von Simon braucht es auch zu den Gurken und Fave-Bohnen auf Büscion-Crème. Der Büscion ist ein traditioneller Frischkäse aus Ziegenmilch, der heute als Kulturgut der Tessiner Alpwirtschaft gilt. Mild, leicht säuerlich und frisch ist er die perfekte Begleitung zu den Gurken und Fave-Bohnen.

Die Gästeschar ist so bunt wie die Wildblumen auf dem Tavolata-Tisch
Im Laufe des Abends werden die Gespräche lebhafter, das Gelächter lauter. Für Yasmin ein Beweis dafür, dass das Konzept funktioniert: «Unsere Tavolata auf der Ziegenalp bringt Menschen zusammen und zeigt gleichzeitig, wie köstlich die lokale und saisonale Bauernküche sein kann.»
Die Gästeschar ist so bunt wie die Wildblumen auf der Tavolata: Zwei junge Griechinnen arbeiten in der Zürcher Szene-Gastronomie, der Vegetarier ist Geschäftsführer von Vivi Kola und ViCAFE (Espresso-Bars, die den Kaffee zu einem Fenster hinaus verkaufen). Dazwischen sitzen ein Medienmanager, ein Jurist und Gäste aus anderen Branchen.
Die meisten Gäste haben ein Faible für gutes Essen, einige haben Gastro-Erfahrung. Aber die heimische Landwirtschaft ist für alle Gäste terra incognita. Am Ende der Tavolata wissen sie alle, wieso Küchenchef Simon Mais, Bohnen und Kürbis als Mischkultur angepflanzt hat und was die lokale Ziegenrasse Nera Verzasca auszeichnet.

Die Nachspeise verkörpert alles, was die Tavolata auf der Ziegenalp ausmacht
Der letzte Leckerbissen der Tavolata – il dolce – ist ein Ricotta-Cheesecake mit Lärchenzucker und Stachelbeer-Kompott. Ein feiner Schlussstrich, im Geschmack wie in der Geschichte dieser Tavolata.
Lärchenzucker ist eine seltene, fast vergessene Zutat der Alpenküche. Schon im 18. Jahrhundert aromatisierte das Landvolk den Zucker mit ätherischen Ölen aus den jungen Nadeln von Lärchen (Kiefern). Das Ergebnis ist ein würzig-waldiges Aroma, leicht harzig, zitronig-frisch.
Beim Abstieg ins Tal am nächsten Morgen sind die Gäste auffallend schweigsam. Das liegt nicht nur am süffigen Wein, der die Tavolata am Vorabend begleitete, sondern auch daran, dass sich jeder Gast seine Gedanken macht.
«Ich habe ein ungewohntes Gefühl von Verbundenheit», erzählt mir eine junge Frau, die sich selbst als überzeugten Stadtmenschen bezeichnet. «Mit dem Ort. Mit dem Essen. Mit den Menschen auf dem Land.» Schade, dass Yasmin, Simon und ihr Alpteam das nicht hören.