Eine Fahrt mit dem Pick-up Truck in die Seele von Texas, wo Ford oder Chevrolet eine «Glaubensfrage» ist
Der Pick-up Truck gehört in Texas so selbstverständlich zum Strassenbild, wie die geräucherte Rinderbrust auf den Teller. Eine Fahrt (natürlich mit dem Pick-up Truck) in die Seele von Texas.
Er ist gross, bärenstark und unzerstörbar. Die Rede ist vom typischen Texaner (oder zumindest von dessen Selbstbild) und von seinem Pick-up Truck. Diese Personenwagen mit offener Ladefläche verkörpern die amerikanischen Werte auf der Strasse genauso wie der 44 Unzen-Becher Coca-Cola (1 Liter) oder das 72 Unzen-Steak (2 Kilogramm) im Restaurant.

Diese Attribute muss ein Pick-up Truck in Texas haben
Pick-up Truck ist nicht gleich Pick-up Truck. Die Rede ist hier von einem Light Truck, wobei das Adjektiv «light» mit US-amerikanischen Augen zu sehen ist.
Ein Light Truck hat fast die doppelte Grösse eines europäischen Personenwagens und darf in den USA ein Gesamtgewicht von 4,5 Tonnen auf die Waage bringen, eine Tonne mehr als vergleichbare Motorfahrzeuge der Kategorie B in der Schweiz.

Motorisiert sind die Light Trucks mit hubraumstarken V6- und V8-Ottomotoren, seltener mit 6- oder 8-Zylinder-Dieselmotoren. Hinterradantrieb ist Standard, der zuschaltbare oder permanente Allradantrieb sind beliebte Optionen.
Und meistens ist der Light Truck eben ein Pick-up (engl. pick up für aufnehmen oder mitnehmen), also ein Personenwagen mit offener Ladefläche (Truck bed oder Tailgate).
Mit dem Pick-up Truck transportieren Texaner so ziemlich alles, was kleiner als eine amerikanische GMA-Palette ist (GMA 120 x 102 cm, Euro-Palette 120 x 80 cm) und einigermassen still hält: vom kompletten Haushalt über spezielle Kabinen-Aufbauten und Baumaterial bis zu toten (Jagdbeute) oder lebenden (Farm) Tieren.

Politiker fahren mit einem verbeulten und charmant angerosteten Farm-Truck vor
Wirklich für die Arbeit verwendet werden meist die spartanischen Grundversionen. Darüber gibt es aber Ausstattungslinien mit allen erdenklichen Luxus-Extras. Zum Beispiel den Ford F-150 Raptor mit einem 5,2 Liter V8-Motor und Kompressor-Aufladung.
Bei einem Verkaufspreis von weit über 100‘000 Dollar für den Raptor muss der Käufer sein Bankkonto oder seine Kreditlimite arg strapazieren. Für die Automobil-Hersteller lohnt sich der Deal immer, Trucks sind Fahrzeuge mit hoher Gewinnspanne.
Ein F-150 Raptor, die Chevrolet Silverado Texas Edition oder die Ford King Ranch-Ausstattung sind Statussymbole für den, der hat. Wer wenig bis nichts hat, möchte das lieber nicht unter die Nase gerieben bekommen.
Deshalb fahren texanische Politiker (zumindest auf Plakaten, in Zeitungsanzeigen und in TV-Spots) lieber mit einem verbeulten und charmant angerosteten Farm-Truck vor. Vorher müssen sich aber Heerscharen von Spin doctors die Köpfe darüber zerbrechen, welche Marke es sein soll oder muss.

Denn in Texas fährt man entweder einen Ford (meist das Modell Ford F-150) oder einen Chevrolet (meist das Modell Chevrolet Silverado 1500). Wenn man nicht am Steuer dieser beiden Trucks sitzt, dann fährt man einen schwarzen Cadillac Escalade und hat eine FBI-Dienstmarke sowie eine Glock-Pistole am Gürtel. OK, das sind Klischees, die aber von den Texanern (und vom FBI) gepflegt werden.
Neben den Trucks von Ford und Chevrolet haben andere Automarken in Texas keine Chance
Die Ironie an dieser unverrückbaren Liebe der Texaner zum Ford F-150 und dem Chevrolet Silverado 1500 ist – dass im Unterschied zu den Konkurrenz-Marken genau diese nicht in Texas produziert werden:
Der Ford F-150 wird über 2000 Kilometer von Texas entfernt am Geburtsort der amerikanischen Automobilindustrie im US-Bundesstaat Michigan gebaut (sowie in den US-Bundesstaaten Kansas und Missouri).
Der Chevrolet Silverado 1500 läuft 1800 Kilometer entfernt im US-Bundesstaat Indiana vom Band.
Ausländische Automarken und deren Modelle wie der Toyota Tundra werden zwar in Texas hergestellt – sind aber für die meisten Texaner keine Option. Selbst wenn die Trucks der ausländischen Hersteller qualitativ meist besser sind als die US-Trucks.

Europäer können keine Autos bauen, sind die Texaner überzeugt
Chancenlos sind in Texas auch die Trucks der US-Marke Ram (unter anderem mit dem Ram 1500), die im US-Bundesstaat Michigan produziert werden. Und chancenlos meint chancenlos: Ford und Chevrolet (genauer dessen Mutterkonzern General-Motors-Konzern GM) haben seit Jahrzehnten mehr Trucks produziert als alle anderen Marken zusammen.
Dazu kommt, dass der Markenname Ram (engl. Widder) erst 1980 den früheren Markennamen Dodge ersetzte und der Ram-Mutterkonzern Chrysler eine Marke des europäisch-US-amerikanischen Automobilherstellers Stellantis ist.
Stellantis wiederum ist aus der Fusion des französischen Automobilkonzerns PSA (Peugeot, Citroën, DS, Opel und Vauxhall) und des italienischen Automobilkonzerns FCA (Fiat und Chrisler) entstanden. Und Europäer können keine Autos bauen, sind die Texaner überzeugt, für sie ist ein Ram bestenfalls dritte Wahl.
Nur am Texas Truck Rodeo 2019 schauten Ford und Chevrolet für einmal in die (Auspuff-)Röhre von Ram
Wobei – 2019 kamen die Texaner aus dem Staunen nicht mehr heraus. Am jährlichen Texas Truck Rodeo war Ford nicht am Start, als die viel beachtete, unabhängige Auszeichnung des North American Truck of the Year vergeben wurde.
Das Texas Truck Rodeo ist ein dreitägiger Vergleich neuer Fahrzeuge der Truck-Hersteller. Der Parcours umfasst Off-Road-Fahrten auf einer weitläufigen Ranch mit Longhorn-Rindern und auf befestigten Strassen.
Am Steuer der Testwagen sind abwechslungsweise 69 Mitglieder von der Texas Auto Writers Association TAWA, dem einflussreichen Verband der Autojournalisten, sowie Mitarbeiter von Automobilherstellern und der damit verbundenen Interessengruppen der Branche in Texas.
2019 war wie gesagt Ford nicht am Start. «Sie wussten, dass sie gegen den neuen Ram 1500 nicht gewinnen können und haben deshalb den Schwanz einzogen», kritisierte ein Mitglied der Texas Auto Writers Association TAWA.
Der abwesende Automobilkonzern Ford erklärte, er würde sich auf wichtigere Veranstaltungen konzentrieren. Was ungefähr so glaubwürdig ist, wie wenn Ford behauptet hätte, sich künftig auf den homöopathisch kleinen Schweizer Truck-Markt zu konzentrieren.
Tatsächlich gewann der Ram 1500 am Texas Truck Rodeo 2019 den Preis für den besten Full-Size-Pickup. Das edelste Pferd im Ram-Stall ist das luxuriöse Modell Laramie Longhorn, das ursprünglich als spezielles Western-Modell für den Verkauf in Texas entwickelt wurde. Mit Sitzen aus Sattelleder und Holzverkleidungen mit John-Wayne-Brandstempel.
Die Konkurrenz zwischen Chevrolet und Ford nimmt in Texas oft kuriose Formen an
Zurück zur «Glaubensfrage», welche die Texaner seit Jahrzehnten spaltet. Welcher soll es denn sein, Ford oder Chevrolet?
Die F-Serie von Ford wird seit 1948 produziert und ist in den USA seit den 1980er-Jahren das meistverkaufte Auto. Mit weit über 40 Millionen produzierten Exemplaren fährt die F-Serie weltweit auf Rang zwei hinter dem Toyota Corolla, einem Kompaktklasse-Personenwagen.
Der Chevrolet Silverado wird erst seit 1998 produziert und liegt darum meilenweit hinter der F-Serie von Ford zurück.

Die Leidenschaft für die «richtige» Truck-Marke bekommen Texaner schon in der DNA mit, sonst aber spätestens bei den obligatorischen Wochenend-Ausflügen mit der ganzen Familie im Truck.
Wer als Kind vom Vater jedes Wochenende hört, dass Chevrolet-Trucks minderwertige Produkte sind – «Stinkin' Chevy!» – für den ist ein Wechsel zu Ford im Erwachsenenalter undenkbar. So undenkbar wie ein Wechsel von den Evangelikalen Protestanten zu den Katholiken oder von den Demokraten zu den Republikanern. Und umgekehrt natürlich auch.
Ford und Chevrolet versuchten deshalb in den letzten Jahren, sich unterschiedliche Images zu geben:
Ford ist innovativ und technikorientiert. Der F-150 fährt zum Beispiel seit 2011 mit Turbolader, der Ford F-150 Lightning All-Electric Truck gleitet seit 2021 sogar vollelektrisch über den Highway.
Chevrolet pflegt dagegen sein traditionelles Image. Der Chevrolet Silverado 1500 hat (meist) immer noch einen V8-Motor unter der Haube.
Nach dem verheerenden Wintersturm: «When the grid goes down, keep the house powered up.»
Ein raffinierter Marketing-Coup von Chevrolet war 2021 die elektrisch betriebene Sechs-Wege-Multi-Flex-Heckklappe, die sich leicht in eine zusätzliche Sitzfläche verwandelt.
Wie geschaffen für die texanischste aller Aktivitäten: die Tailgate-Party jeweils mehrere Stunden vor, während und nach den American-Football-Spielen auf den Parkplätzen vor den Stadien. Mit Grill und Kühlbox (beides in texanischer Grösse, also XXXL) sitzen Freunde und Familie mehr oder weniger bierselig auf der Ladefläche und verfolgen das Spiel im Radio oder auf einem kleinen Bildschirm.
Trotz der elektrischen Heckklappe von Chevrolet ist Ford in Texas immer noch eine Meile voraus. Nach dem verheerenden Wintersturm von 2021, der im US-Bundesstaat Texas die Stromversorgung von 4 Millionen Haushalten lahmlegte, konnten die texanischen Ford-Händler nämlich ihre F-150 Lightning als «mobile Kraftwerke» an Familien ausleihen.
Mit dem Pro Power Onboard-Paket als Bordgenerator konnten viele Familien wenigstens telefonieren und die Katastrophen-Sondersendungen im TV schauen: «When the grid goes down, keep the house powered up.»