Die Freiheit der Bauern ist paradox: Sie sind gleichzeitig freier und unfreier als andere Berufe
Die Freiheiten der Landwirte sind einzigartig – aber teuer erkauft. Der Preis sind eine absurde Bürokratie und strenge Umweltauflagen, hohe Investitionen und harter wirtschaftlicher Druck.

Kurz & bündig
Die Freiheit der Landwirte zur Zeit der Reformation im 16. Jahrhundert
Erst im späten 18. Jahrhundert wurde die Leibeigenschaft der Bauern aufgehoben
Die Freiheit der Landwirte in den 1950er- und 1960er-Jahren
Die Freiheit der Landwirte im Jahr 2025
Wie beeinflusst die Lebensform den Freiheitsbegriff der Landwirte?
Was bedeutet Freiheit für Landwirte wirklich?
Es ist 5 Uhr morgens auf dem Bauernhof von Curdin Cadonau. Während in der Stadt noch alles schläft, melkt der Landwirt in einem Bergdorf in Graubünden seine Kühe.
«Freiheit bedeutet für mich, mein eigener Chef zu sein», sagt Curdin Cadonau, «aber diese Freiheit hat ihren Preis.»
Die Freiheiten und Einschränkungen der Landwirte haben sich über die Jahrhunderte gewandelt: von der Leibeigenschaft im 16. Jahrhundert über die staatlichen Regulierungen der Nachkriegszeit bis hin zu den marktwirtschaftlichen und ökologischen Zwängen von heute.
Die Freiheit der Landwirte zur Zeit der Reformation im 16. Jahrhundert
Im 16. Jahrhundert stellten die Bauern in den deutschsprachigen Ländern die grösste Bevölkerungsgruppe. Heute sind sie nur noch eine kleine Berufsgruppe. Zum Vergleich:
1525: 80 Prozent der Bevölkerung
1950: 23 Prozent der Bevölkerung (DE 22%, CH 16%, AT 32%)
2025: 2,4 Prozent der Bevölkerung (DE 1,2%, CH 2,5%, AT 3,5%)
Die Bauern waren Leibeigene auf dem Land ihrer Fronherren oder Grundherren, für welche sie unbezahlt arbeiten mussten. Mit harter Arbeit und hohen Abgaben finanzierten die Bauern den Adel und die Geistlichen. Die Bauern besassen kein Land und Eigentum. Sie hungerten, während sich die Fronherren den Wanst voll frassen.
Die Reformation veränderte nach 1520 das Selbstverständnis der Bauern grundlegend. Die Schrift «Von der Freiheit eines Christenmenschen» des deutschen Reformators Martin Luther wurde von den Bauern als revolutionär verstanden. Was sie nicht wussten: Luther meinte damit die geistliche Freiheit der hohen Herren («frei von Sünde») und nicht die Freiheit der Bauern auf Erden.
Erst im späten 18. Jahrhundert wurde die Leibeigenschaft der Bauern aufgehoben
Die Bauern organisierten sich und forderten in den «Zwölf Artikeln der Bauernschaft» von 1525 wirtschaftliche und persönliche Freiheitsrechte. Das ging dem Adel und den Kirchenfürsten entschieden zu weit. Mit eigens aufgestellten Söldnerheeren zeigten sie den Bauern deren Grenzen auf.
Martin Luther stellte sich auf die Seite von Adel und Kirchenfürsten. In seiner Schrift «Gegen die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern» rief der Reformator «aus Sorge um die gottgefügte Ordnung» zur Vernichtung der Bauern auf.

Im nun folgenden Bauernkrieg hatten die Bauern mit ihren Dreschflegeln, Sensen und Sicheln keine Chance gegen die Kanonen der Söldner. In nur zwei Jahren starben über 70‘000 Bauern im Kampf für ein besseres Leben.
Mit der Freiheit war es damit für die nächsten dreihundert Jahre vorbei. Erst ab 1781 wurde die Leibeigenschaft der Bauern zuerst in Österreich, später in der Schweiz und in Deutschland aufgehoben.
Die formale Aufhebung der Leibeigenschaft brachte den Bauern aber keine echte Freiheit. Sie mussten sich von den Fronherren freikaufen und gerieten dadurch in neue Abhängigkeit. Die Ablösesummen waren so hoch, dass sich viele Bauernfamilien hoch verschulden mussten.
Ein Teil der Bauern konvertierte deshalb zu den Täufern. Dabei bildeten sich die Gemeinschaften der Mennoniten, Amischen und Hutterer. Sie praktizierten Gewaltlosigkeit sowie eine Trennung von Kirche und Staat. Weil dies im Chaos der Reformation nicht möglich war, flüchteten sie zuerst nach Osteuropa und von dort aus vor allem in die USA. Siehe meine Reportage:
Amische und Mennoniten in Indiana (USA): Bauern zwischen Bibel und Babylon
Nur 200 Kilometer östlich vom Sündenpfuhl Chicago, wo im Stadtteil Westside Drogen und Waffen leichter erhältlich sind als gesundes Essen, produzieren Täufer die schmackhafte Milch, frisches Gemüse und knuspriges Brot wie vor über 300 Jahren.
Die Freiheit der Landwirte in den 1950er- und 1960er-Jahren
Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte das «Wirtschaftswunder» den Wohlstand in die Städte: Auto, Kühlschrank, Waschmaschine und Fernseher. Während die Stadtbewohner vom gesellschaftlichem Wandel profitierten, forderten die 1950er- und 1960er-Jahre von den Bauern einen Balanceakt zwischen neuen Freiheiten und neuen Zwängen:
+ die Bauern waren die Besitzer ihres eigenen Landwirtschaftsbetriebes.
– Die landwirtschaftliche Produktion wurde aber bestimmt von der vorgelagerten Industrie (Tierfutter, Dünger, Pflanzenschutzmittel) und nachgelagerten Industrie (Molkereien, Mühlen, Lebensmitteleinzelhandel).
+ Mit der Mechanisierung erhielten die Bauern neue Freiheiten.
– Für den Kauf von Traktoren, Mähdreschern etc. mussten die Bauern zum Teil absurd hohe Kredite aufnehmen.
+ Neue Landwirtschaftsgesetze garantierten den Bauern Einkommenssicherheit.
– Die gleichen Landwirtschaftsgesetze fesselten die Bauern aber an staatliche Vorgaben.

Auch die soziale Freiheit der Bauern – und vor allem der Bäuerinnen – war begrenzt. Traditionelle Rollenbilder prägten das Leben auf dem Hof: Während die Männer die Feldarbeit und die geschäftlichen Angelegenheiten übernahmen, blieb den Frauen nur die Alliteration mit den drei K: Kinder, Küche, Kirche.
Dafür konnten viele Bauernsöhne (kaum Bauerntöchter) erstmals wählen, ob sie den Hof übernehmen oder einen anderen Beruf ergreifen wollten. Auch dies war eine neue Freiheit mit neuen Zwängen:
Die Erwartungen der Eltern war oft stärker als der Willen der jungen Generation.
Besonders der älteste Sohn stand unter Druck, den Hof zu übernehmen.
Es galt als «Versagen», wenn der Familienbetrieb nicht weitergeführt wurde.

Die Freiheit der Landwirte im Jahr 2025
Und im Jahr 2025? Heute sind die Freiheiten der Landwirte durch Technologie, Politik und gesellschaftliche Erwartungen stark geprägt – und gleichzeitig von diesen Faktoren stark eingeschränkt:
+ Die Digitalisierung macht die Landwirtschaft effizienter und ökologischer.
– Die Digitalisierung schränkt aber die Entscheidungsfreiheit der Landwirte ein.
+ Die Politik will die Landwirtschaft mit immer mehr Regeln, Schutzzöllen etc. schützen.
– Die Politik entscheidet schneller, als die Landwirtschaft folgen kann (ein neues Gesetz ist mit Handaufheben im Parlament beschlossen, ein neuer Stall ist ein Generationenprojekt). Und die Landwirte ersticken in der Bürokratie.
+ Die Gesellschaft erkennt immer mehr, dass gesunde Lebensmittel aus einer nachhaltigen Landwirtschaft für die Menschen und den Planeten überlebenswichtig sind.
– Weil die Landwirte in Generationen denken, können sie den gesellschaftlichen Forderungen nicht schnell genug nachkommen.

Obwohl die Landwirtschaftsbetriebe im Besitz der Landwirte sind, können sie über Produktionsmethoden, Kulturen (Nutzpflanzen) und Tierhaltung nur innerhalb engen gesetzlichen Vorgaben entscheiden. Direktzahlungen, die einen Grossteil des Einkommens ausmachen, sind an strenge an Auflagen gebunden. Diese Abhängigkeit vom Staat schränkt die wirtschaftliche Freiheit ein.
Im Vergleich zu Arbeitern in der Industrie, Handwerkern und Büroangestellten («Stadtbewohner») ist der Freiheitsbegriff der Landwirte spezifisch und stark von ihrer Lebensform beeinflusst.
«Frei? Ja, ich bin frei – frei, 365 Tage im Jahr um 5 Uhr aufzustehen und meine Kühe zu melken», erklärt Curdin Cadonau.
Auch Stadtbewohner müssen gesetzliche Vorgaben einhalten. Ein zentraler Unterschied ist aber die Lebensweise: Landwirte arbeiten auf ihrem eigenen Land und können ihre Arbeit freier einteilen – zumindest theoretisch.
In der Praxis bestimmen Wetter, Pflanzen und Tiere den Rhythmus. Feierabend oder Urlaub gibt es selten. Oder, um es mit den Landwirt Curdin Cadonau zu sagen:
«Meine Milchkühe kann ich nicht um 18 Uhr ausstempeln.
Gewitter ziehen grundsätzlich kurz vor dem Einbringen der Ernte auf.
Kälber kommen am liebsten mitten in der Nacht zur Welt.»
Stadtbewohner haben dagegen klare Arbeitszeiten und können ihre Freizeit und ihren Urlaub oft flexibler gestalten. Sie erleben andere Zwänge, etwa Leistungsdruck oder die Notwendigkeit, im Arbeitsmarkt flexibel zu sein.

Wie beeinflusst die Lebensform den Freiheitsbegriff der Landwirte?
Die Freiheit der Landwirte wird 2025 gerne als «freies Bauernleben» romantisiert. Die damit verbundenen Einschränkungen werden dabei übersehen. Aber auch viele Landwirte empfinden ihre Lebensform trotz aller Einschränkungen als freier als ein «normales» Angestelltenverhältnis.
Bei genauer Betrachtung hat die Freiheit der Landwirte sechs Dimensionen:
1. Die räumliche Dimension der Freiheit
Landwirte leben und arbeiten am selben Ort
Sie sind an ihren Betrieb (an die Scholle) gebunden
Der Hof bestimmt den Lebensrhythmus der ganzen Familie
Die Nähe zur Natur bedeutet auch Abhängigkeit von der Natur
2. Die zeitliche Dimension der Freiheit
Landwirte haben keine klassische Trennung von Arbeitszeit und Freizeit
Der Tagesablauf wird von Tieren und Pflanzen bestimmt
Saisonale Arbeitsrhythmen prägen das ganze Jahr
Freizeit muss den natürlichen Zyklen untergeordnet werden
3. Die wirtschaftliche Dimension der Freiheit
Landwirte haben eine formale Selbständigkeit bei gleichzeitiger Marktabhängigkeit
Hohe Investitionen binden oft über Generationen
Direktzahlungen geben Sicherheit, schaffen aber neue Abhängigkeiten
Der Hof als Vermögenswert schränkt wirtschaftliche Entscheidungsfreiheit ein
4. Die soziale Dimension der Freiheit
Landwirte haben eine enge Verflechtung von Familie und Betrieb
Traditionelle Rollenerwartungen sind oft noch stark
Die dörfliche Gemeinschaft bietet Unterstützung, übt aber auch Kontrolle aus
Der Beruf prägt die gesamte Identität
5. Die generationelle Dimension der Freiheit
Landwirte tragen die Verantwortung für das Erbe früherer Generationen
Verpflichtung gegenüber künftigen Generationen
Hofübergabe als kritischer Moment der Freiheit
Traditionsbewahrung vs. Modernisierung
6. Die ethische Dimension der Freiheit
Landwirte übernehmen Verantwortung für Tiere und Pflanzen
Verpflichtung zum nachhaltigen Umgang mit Boden und Natur
Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ökologie
Gesellschaftliche Erwartungen an die Landwirtschaft

Was bedeutet Freiheit für Landwirte wirklich?
Der britische Philosoph Isaiah Berlin unterschied zwischen zwei Arten von Freiheit:
Die «negative Freiheit» – also die Freiheit von äusseren Zwängen.
Die «positive Freiheit» – die Freiheit zu selbstbestimmtem Handeln.
Diese Unterscheidung hilft uns, die paradoxe Situation der Landwirte besser zu verstehen.
Auf den ersten Blick scheinen Landwirte besonders viel «negative Freiheit» zu haben: Sie sind frei von Vorgesetzten, frei von der Stechuhr, frei von der räumlichen Trennung zwischen Arbeit und Privatleben. Doch diese Freiheit ist trügerisch: Neue Abhängigkeiten von Banken, Märkten und staatlichen Auflagen haben die alten Zwänge ersetzt.
Bedeutsamer ist die «positive Freiheit» der Landwirte – ihre Freiheit zu gestalten: Sie können eigenverantwortlich wirtschaften, die Kulturlandschaft nachhaltig formen und in Generationen denken. Diese Gestaltungsfreiheit gibt ihrer Arbeit einen tieferen Sinn, der über das reine Produzieren von Lebensmitteln hinausgeht.
Der Landwirt Curdin Cadonau bringt es auf den Punkt:
«Natürlich bin ich von vielem abhängig – vom Wetter, von den Preisen, von der Politik.
Aber wenn ich morgens über meinen Hof gehe, dann weiss ich: Dies ist mein Land, dies sind meine Tiere, und ich trage die Verantwortung dafür, dass beides auch noch für die nächste Generation da ist.»
Nach diesem Parforce-Ritt durch 500 (Un-)Freiheit der Bauern ist meine Schlussfolgerung: Die Freiheit der Landwirte ist paradox: Sie sind gleichzeitig freier und unfreier als andere Berufsgruppen. Ihre Freiheit ist weniger individuell als bei anderen Berufen, sondern immer eingebettet in grössere Zusammenhänge.
Disclaimer
Zu diesem Beitrag zum Thema «Was bedeutet Freiheit» hat mich die deutsch-österreichische Autorin Margot Dimi angeregt. Eine ganze Reihe deutschsprachiger Autoren, die (wie ich selbst) ihre Texte auf der Substack-Plattform publizieren, sind der Anregung von Margot Dimi gefolgt.
Kleine Ergänzung zum Schwarzweißbild mit der von "Ochsen" gezogenen Mähmaschine: Die Bauern, die sich keine Ochsen leisten konnten – das waren wohl die meisten – arbeiteten mit Kühen. Und das hier sind welche. (... sagt der Städter ;-)
Was für ein toller Text!
Du fängst genau ein, warum Landwirtschaft das Schönste überhaupt ist, die Kehrseiten aber auch so bedrückend. Für mich war Landwirt mein Traumberuf: auch heute würde es aber bedingen, dass die Familie zu 100% mitzieht und selbst bei externem Einkommen zu einem guten Teil eingebunden ist. Es würde bedingen, dass man - möchte man eine Ortswahl treffen und hat nicht zufällig einen Hof geerbt ohne seine Geschwister auszahlen zu müssen - so tief im Schuldenloch sitzt, dass es praktisch unmöglich ist, sich da wieder herauszuarbeiten. Besonders, wenn man den Hof noch weiterentwickeln möchte.
Möchte man etwas anders machen und in Veredelung oder Direktvermarktung eine Nische finden, verdoppelt und verdreifacht sich der bürokratische Aufwand und damit die mentale Belastung - und man ist nicht mehr “Bauer”, sondern “multipreneur” und versucht im Grunde am langen Arm und neben dem Grundrauschen auf dem Hof noch ein oder mehrere Startups hochzuziehen.
Die Freiheit der Landwirt:innen im Alltag ist nicht das Multipreneur-Dasein, sondern die Arbeit mit den Tieren und Pflanzen und Du bringst es perfekt auf den Punkt: es ist - gepaart mit den Drücken, Zwängen und unumgänglichen Schulden ein Paradoxon.
Meine Aufgabe ist deswegen, den Menschen, die sich für die Landwirtschaft entschieden haben, möglichst viel der Mental Load abzunehmen, Richtung und Klarheit zu bieten und zumindest dafür zu arbeiten, dass der Bio-Aspekt der Herstellung und Vermarktung keine zusätzliche Belastung ist..