Aus einem Irrtum am Rebstock 58 wurde ein Welterfolg: der Müller-Thurgau
Ein botanischer Irrtum mit Folgen: Hermann Müller kreuzte 1882 zwei Rebensorten, von denen er glaubte, es seien Riesling × Silvaner. Heute kennt die Welt diesen Weisswein als Müller-Thurgau.

Als der Schweizer Botaniker Hermann Müller 1882 an der Königlich Preussischen Lehranstalt für Obst- und Weinbau in Geisenheim seine Reben kreuzte, wollte er den perfekten Mix aus Riesling-Aroma und Silvaner-Frühreife schaffen.
«Was er bekam, war eine Jahrhundert-Verwechslung», erklärt Jacqueline Achermann. Die Schweizer Winzerin gilt als beste Kennerin der Entwicklungsgeschichte des Riesling × Silvaner respektive Müller-Thurgau und weiss: «Dem guten Müller war nicht bewusst, mit welcher Rebsorte er den Riesling tatsächlich gekreuzt hatte.»
Jacqueline Achermann führt mich im Weinbauzentrum Wädenswil zum rosaroten Rebhaus, wo die direkten Nachkommen von Müllers Kreuzung stehen. Sie tragen eine Etikette mit der Bezeichnung «Riesling × Silvaner Urrebe Stock 58».
Optisch unspektakulär, sind diese zwölf Rebstöcke ein genetisches Schwergewicht: Der Rebstock 58 hat den weltweit am weitesten verbreiteten Neuzüchtungs-Wein des 20. Jahrhunderts hervorgebracht.
Ein süffiger Weisswein mit Identitätskrise – jede Flasche mit der Etikette Müller-Thurgau erzählt vom ungewollten «Etikettenschwindel» in der Genetik.

Der Mann hinter dem Rebstock 58: Hermann Müller-Thurgau
Der Botaniker Hermann Müller stammte aus dem Kanton Thurgau – weshalb er zur Unterscheidung von unzähligen anderen Müller’s als Müller-Thurgau bezeichnet wurde. Ein eher unbeholfener Versuch: Alleine im Kanton Thurgau leben heute etwa 1400 Männer mit dem Familiennamen Müller.
Das Universalgenie Müller-Thurgau – er hatte die Pasteurisation weiterentwickelt und mit Reinzucht-Hefe die Qualität von Wein, Brot und Bier verbessert – hatte eine klare Vision: Er wollte eine Rebsorte züchten, die zwei Qualitäten vereint:
Die aromatischen Qualitäten des Rieslings: Eine klare, präzise Fruchtigkeit mit belebender Säure, die für «Spritzigkeit» sorgt.
Die Frühreife des Silvaners: Dessen Trauben sind zwei bis drei Wochen früher reif als Riesling und für kühlere Regionen geeignet.
An der deutschen Lehranstalt Geisenheim begann Müller-Thurgau 1882 mit systematischen Kreuzungsversuchen. Die Geduld des Wissenschaftlers wurde auf die Probe gestellt, alleine die Vorprüfung der Neuzuchten dauerte acht Jahre.
1891 wurde Müller als Direktor an die frisch gegründete Eidgenössische Versuchsanstalt für Obst-, Wein- und Gartenbau in Wädenswil (heute: Agroscope) am Zürichsee berufen.
150 seiner vielversprechendsten Stecklinge brachte er mit in die Schweiz. Einer davon sollte Weingeschichte schreiben.

Eine Maus könnte dem Botaniker Müller-Thurgau einen Streich gespielt haben
In Wädenswil begann die systematische Entwicklung der neuen Rebsorte. Die Stecklinge wurden angezüchtet und 1894 konnten 73 verschiedene Sorten im Freiland ausgepflanzt werden.
Den Rebstock 58 hatte Hermann Müller fälschlicherweise als Kreuzung von Riesling × Silvaner beschriftet. «Fast unvorstellbar, weil Müller-Thurgau als äusserst penibler Botaniker bekannt war», erklärt Jacqueline Achermann.
Für Nicht-Winzer: Das × (sprich: «mal» oder «kreuz») in Riesling × Silvaner ist ein botanisches Fachsymbol für die gezielte Kreuzung zweier Rebsorten durch künstliche Bestäubung, also:
Riesling = Mutter-Rebe (Pflanze, von der der Samen stammt)
xSilvaner = Vater-Rebe (Pflanze, die den Pollen geliefert hat)
Jacqueline Achermann glaubt, dass eine Maus für diesen Fehler verantwortlich ist. Müller-Thurgau steckte nämlich die Traubenkerne für seine Neuzüchtung über Winter in eine mit Sand gefüllte Kiste. Da könnte eine Maus im doppelten Sinne des Wortes ins Grübeln gekommen sein.

Wie Rebstock 58 in Wädenswil Wurzeln schlug und die Weinwelt erobert
1897 begann Müller-Thurgau mit der Vermehrung, 1901 mit der Veredelung auf Wurzelstöcken von robusten Rebensorten. Bei der Veredelung entsteht eine Pflanze mit zwei verschiedenen genetischen Teilen: unten der Wurzelstock, oben die Edel-Rebe.
1903 wurden die ersten produktiven Weinberge der neuen Sorte erstellt. 1907 wuchsen schon 894 veredelte Riesling × Silvaner-Reben.
Der internationale Durchbruch begann 1908, als 22‘000 Pfropf-Reben in der Schweiz und dem Ausland verteilt wurden. Der süffige Weisswein fand schnell Anklang als «Hochzeitswein», der Begriff für einen Wein, den alle mögen.
Erst nach einem Jahrhundert wurde das genetische Rätsel des Riesling × Silvaner gelöst
Müller-Thurgau wunderte sich zwar über das ausgeprägte Muskateller-Aroma der reifen Riesling × Silvaner-Trauben. Und alle Versuche, die Züchtung nachzuvollziehen, scheiterten. Aber der Rebstock 58 und der daraus gekelterte Weisswein erhielt den Namen Riesling × Silvaner.
«In Deutschland wurde der Wein schon 1913 nach seinem Erfinder benannt, was den bescheidenen Schweizer Müller-Thurgau gar nicht recht war», betont Jacqueline Achermann.
Erst 1996, mehr als hundert Jahre nach der ursprünglichen Kreuzung, knackten Wissenschaftler der Höheren Bundeslehranstalt für Wein- und Obstbau in Klosterneuburg (Österreich) den genetischen Code.
Von wegen Silvaner. Es war die Madeleine Royale – ein Name wie aus der Champagner-Werbung. In Wahrheit aber eine unbekannte Tafeltraube, eine Kreuzung von Pinot und Trollinger. Der Name verweist auf den Reifezeitpunkt rund um den 22. Juli, am Namenstag der Magdalena.
Diese Erkenntnis wurde im Jahr 2000 durch das Julius Kühn-Institut in Deutschland bestätigt.
Heute dürfen nur noch die Bezeichnungen Müller-Thurgau oder Rivaner (abgeleitet aus Riesling × Silvaner) verwendet werden. Nur in der Schweiz wird die Schreibweise Riesling-Silvaner mit Bindestrich akzeptiert.

Der Siegeszug der Rebsorte Müller-Thurgau nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte der Müller-Thurgau einen regelrechten Boom. In den 1970er-Jahren wurden weltweit über 40’000 Hektar Müller-Thurgau angebaut (2024 sind es «nur» noch 20’000 Hektar).
Heute ist die Rebsorte vor allem in den deutschsprachigen Ländern etabliert:
🇩🇪 In Deutschland ist Müller-Thurgau mit 10'738 Hektar die zweitwichtigste Weisswein-Sorte nach dem Riesling.
🇦🇹 In Österreich wird Müller-Thurgau auf 1’230 Hektar angebaut.
🇨🇭 In der Schweiz beträgt die Anbaufläche von Müller-Thurgau 424 Hektar, wobei die Sorte vor allem in den Deutschschweizer Weinregionen verbreitet ist.
Ausserhalb Europas findet man Müller-Thurgau in Neuseeland, den USA, Japan und Kanada. Insgesamt ist die Sorte die erfolgreichste weisse Neuzüchtung der Weinbaugeschichte.

Gerettet in letzter Minute: Wie ein fast vergessener Rebstock zum lebendigen Kulturerbe wurde
Dass direkte Nachkommen des Original-Rebstocks 58 in Wädenswil stehen, ist nur dem Glück zu verdanken – oder besser zwei aufmerksamen Winzern.
In den 1980er-Jahren war der «Mutterstock» schon ausgegraben und zum Wegwerfen bereit. Glücklicherweise konnten davon noch rechtzeitig Edelreiser genommen werden. Martin Auer von der gleichnamigen Rebschule machte vom Rebstock 58 zwölf genetische Kopien. Diese wurden ein Jahr später selben Standort als «Kinder» neben dem rosaroten Rebhaus gepflanzt.
2021 wären auch die zwölf «Kinder» von Rebstock 58 beinahe ausgerissen worden. Martin Wiederkehr, Leiter des Weinbauzentrums Wädenswil, konnte dies verhindern. Und es war wiederum der Winzer Martin Auer, welcher die mittlerweile 40 Jahre alten «Kinder» in seiner Rebschule als Pfropfreben vermehrte.
2024 lieferte die Rebschule Auer 226 Jungreben von Rebstock 58, die neben dem rosaroten Rebhaus in 5 Reihen à 65 Reben gepflanzt wurden. Weitere 300 sollen folgen. Wenn alles gut geht, können aus diesen «Enkeln» von Rebstock 58 in drei Jahren 1’000 Liter Müller-Thurgau gekeltert werden.
Zurück ins Jubiläumsjahr 2025 – Hermann Müller wäre heute 175 Jahre alt. Mit Martin Wiederkehr und Jacqueline Achermann stehe ich beim rosaroten Rebhaus der ehemaligen Eidgenössischen Forschungsanstalt. Oder besser: Wir knien vor den Stecklingen mit der Etikette «Riesling × Silvaner Urrebe Stock 58».
«Als genetische Ressource sind sie von unschätzbarem Wert für die Rebenzüchtung und die Erhaltung der biologischen Vielfalt im Weinbau», erklärt Jacqueline Achermann.
Und sie symbolisieren die Tradition der Rebenzüchtung in der Schweiz und Deutschland. «Der Rebstock 58 und seine direkten Nachkommen haben einen besonderen Status als lebendes Kulturerbe», betont Martin Wiederkehr.

Müller-Thurgau unter Hitzestress – neue Herausforderungen für eine alte Sorte
Heute steht die Rebsorte Müller-Thurgau vor neuen Herausforderungen: Der Klimawandel verändert die Bedingungen in traditionellen Anbaugebieten. Höhere Temperaturen führen zu schnellerer Reife und geringerem Säuregehalt – ein Problem für eine Rebsorte, die ohnehin schon früh reift und wenig Säure aufweist.
Gleichzeitig erschliessen sich durch die Klimaerwärmung neue Anbaugebiete in nördlicheren Regionen, wo Müller-Thurgau bisher nicht kultiviert werden konnte. Die Anpassungsfähigkeit der Rebsorte wird in den kommenden Jahrzehnten auf die Probe gestellt.
Zwischen Mainstream und Comeback: Warum Müller-Thurgau plötzlich wieder interessant wird
Nicht nur das Klima – auch die Konsumenten-Präferenzen ändern sich: Früher waren leichte, milde Weine gefragt – heute liegen komplexere, säurebetontere Weine im Trend.
Innovative Winzer experimentieren mit neuen Ausbaumethoden, um dem Müller-Thurgau mehr Komplexität und Lagerfähigkeit zu verleihen:
Längere Maische-Standzeiten (Kontaktzeit der zerquetschten Trauben = Maische mit festen Bestandteilen wie Schalen, Kernen und Stielen)
Ausbau im Holzfass
Längere Hefelagerung zur Aromabildung

Die Geschichte des Müller-Thurgau ist die Erfolgsgeschichte eines Irrtums
Die Geschichte des Rebstocks Nr. 58 ist eine faszinierende Mischung aus wissenschaftlicher Innovation, glücklichen Zufällen und einem Irrtum.
Was als Versuch begann, die besten Eigenschaften zweier bekannter Rebsorten zu kombinieren, führte zu einer völlig neuen Sorte mit eigener Identität – auch wenn diese Identität teilweise auf einem Missverständnis beruhte.
«Die direkten Nachkommen des Rebstocks 58 in Wädenswil sind mehr als ein historisches Relikt», betont Jacqueline Achermann. «Sie sind ein lebendiges Symbol für Innovation, Ausdauer und die manchmal überraschenden Wege, die Forschung und Entwicklung nehmen können.»
Im Artikel steht
"nicht bewusst, mit welcher Rebsorte er den Riesling tatsächlich gekreuzt hatte."
Demnach ist also kein Silvaner drin, Meister Müller hätte also versehentlich die Pollen der Tafeltraube Madeleine Royale auf Riesling-Blüten aufgebracht?
Wäre prima, wenn Du das für mich (= Wein-ahnungslos) noch konkretisieren könntest (auch, was die Maus da wirklich gemacht haben sollte).
So einen Irrtum würde ich mir auch mal wünschen ;-), Danke für diesen sehr interessanten Beitrag!