Mit der Nase im Acker – wie regenerative Landwirte den Boden lesen lernen
Regenerative Landwirte fahren nicht mit dem Pflug über ihren Acker. Sie lesen den Boden mit Spaten und Boden-Stechsonde. Ein lebendiger Boden duftet, krümelt, atmet. Eine Spurensuche mit allen Sinnen.

Kurz & bündig
Zuerst wird die Bodenqualität mit der Spatenprobe beurteilt
In einem zweiten Arbeitsgang kommt die Bodensonde zum Einsatz
In der regenerativen Landwirtschaft ist der Boden ein lebendiger Organismus
Die regenerative Landwirtschaft schützt das Bodenleben mit einer ständigen Bodenbedeckung
Wie macht regenerative Landwirtschaft einen leblosen Boden lebendig?
Ein Spatenstich – mehr braucht Axel Vohwinkel nicht, um zu wissen, wie es dem Boden geht. Die Spatenprobe gibt ihm einen Einblick in die Bodenphysik und Bodenbiologie, die chemische Analyse folgt später.
An diesem eiskalten Frühlingsmorgen kniet Vohwinkel auf einem Acker in Rafz, im nördlichsten Zipfel des Kantons Zürich, direkt an der Grenze zu Deutschland. Nebel liegt über dem Feld, die Bise pfeift uns um die Ohren.
Vohwinkel greift eine Handvoll Erde vom Spaten und hält sie an die Nase. «Wir müssen den Boden in die Hände nehmen, daran riechen.» Er riecht. «Wenn die Erde intensiv nach Waldboden duftet, ist der Boden mikrobiell belebt.»
Am Erdboden riechen? Klingt ungewöhnlich. Aber Axel Vohwinkel ist kein Romantiker, sondern ein erfahrener und bodenständiger Landwirt.
Der stämmige Norddeutsche leitete Grossbetriebe mit bis zu 6500 Hektar – das entspricht 100 deutschen oder über 300 Schweizer Bauernhöfen – und berät heute europaweit Landwirtschaftsbetriebe zur Bodenentwicklung und wirtschaftlich tragfähigem Pflanzenbau.

Zuerst wird die Bodenqualität mit der Spatenprobe beurteilt
Zuerst beurteilt Vohwinkel die Bodenprobe mit der Spatenprobe – auf Bodenart, Gefügestabilität, Durchwurzelung und Porenvolumen. Ergänzend folgt eine chemische Analyse.
Für die Bodenqualität nutzt Vohwinkel ein anschauliches Bild: «Der Boden ist wie ein Kühlschrank, in dem die Nährstoffe gespeichert sind, welche die Pflanze dem Boden entnimmt. Mit organischen Substanzen wie Wurzeln, Pflanzenresten und mit der Förderung des Bodenlebens (dem Mikrobiom) füllen wir den Kühlschrank mit pflanzenverfügbaren Nährstoffen.»
Das Bodenleben spielt in der regenerativen Landwirtschaft eine zentrale Rolle. Nicht nur im Humus-Aufbau und -Umbau, sondern auch in einer ausgewogenen Pflanzenernährung, durch die sich industrielle Dünger und Pflanzenschutzmittel reduzieren lassen.
Wird intensiv gepflügt und überdüngt, werden keine Zwischenfrüchte wie Lupinen, Raps oder Buchweizen als Gründüngung zugeführt und kein Humus aufgebaut, verliert der Boden wertvolle Eigenschaften.
Denn Humus kann Wetterextreme wie Starkregen und Hitzeperioden besser abpuffern:
Der Boden kann wertvolles Wasser bei Starkregen besser aufnehmen
Pflanzenbestände können Hitzeperioden entscheidend länger überstehen
«Wenn wir diesen Kühlschrank schneller leeren, als er sich füllen lässt, sinkt der Humus-Wert bis auf 1 Prozent. Dann dauert es zehn bis zwölf Jahre, ihn wieder auf 4 bis 5 Prozent aufzufüllen», erklärt Vohwinkel.

In einem zweiten Arbeitsgang kommt die Bodensonde zum Einsatz
Dann kommt die Bodensonde zum Einsatz – ein 100 Zentimeter langer Edelstahl-Stab mit T-Griff. «Ich will wissen, was da unten los ist», sagt Axel Vohwinkel und drückt die Sonde gefühlvoll in den Boden – wie ein Bäcker das Holzsspiesschen in einen Kuchen. So ertastet er die Bodenhorizonte:
A-Horizont (Oberboden): Der fruchtbare Teil des Bodens – dunkel, humusreich und voller Leben. Hier wachsen die meisten Wurzeln und arbeiten Mikroorganismen und Regenwürmer.
Pflugsohle: Eine verdichtete Schicht, die sich durch den Druck der Pflugschar und Traktorräder in 20 bis 30 cm Tiefe gebildet hat.
B-Horizont (Unterboden): Weniger Humus, meist weniger durchwurzelt. Hier dringen Pflanzenwurzeln tiefer vor – wenn der Boden locker und offen genug ist.
C-Horizont (Ausgangsmaterial): Lockeres Gestein, aus dem sich der Boden langsam bildet. Kaum Leben, noch kein richtiger Boden.
R-Horizont (Festgestein): Unverwittertes, hartes Gestein.

Mit der Bodensonde erkennt Vohwinkel auch Verfestigungen und Verdichtungen. «Nicht jede Verfestigung ist schlecht, sofern der Boden offenporig ist. Verdichtungen oder technisch bedingte Verschmierungen behindern das Wurzelwachstum.»
Die Aussagekraft der Bodensonde ist allerdings witterungsabhängig – im Frühjahr und Herbst gut, im Sommer oft eingeschränkt..
In der regenerativen Landwirtschaft ist der Boden ein lebendiger Organismus
Für Axel Vohwinkel ist der Boden ein lebendiger Organismus – ein Netzwerk aus Mikroorganismen, Regenwürmern, Pilzen und Wurzeln. Dieses Bodenleben muss «gefüttert» werden – mit organischer Substanz, nicht mit Chemie.
«Die intensive Landwirtschaft, die maximale Erträge anstrebt, gilt seit Jahrzehnten als gute landwirtschaftliche Praxis», sagt er. Vohwinkel geht es «weniger um ein betriebliches Maximum, als um ein betriebliches Optimum, das langfristig ökologisch und wirtschaftlich tragbar ist.»
Vohwinkel arbeitet mit Spaten und Sonde, mit Geruchssinn, Fingerspitzengefühl und Erfahrung – von Kopf bis Fuss, respektive umgekehrt: «Wir müssen den Boden ver-stehen und be-greifen, erst dann können wir ihn erfahren.» Nicht mit Traktor und Pflug, sondern mit mindestens drei unserer fünf Sinne.

Die regenerative Landwirtschaft schützt das Bodenleben mit einer ständigen Bodenbedeckung
Auf dem benachbarten Feld zeigt Vohwinkel auf den Ackerboden. Ich sehe einen frisch gepflügten, glattgezogen, sauberen Acker. Doch der Bodenexperte sieht etwas anderes:
«Eine gestörte Bodenstruktur, eine oberflächliche Verschlämmung von instabilen Bodenpartikeln.
Wasser kann nur oberflächlich abfliessen und nicht vom Boden aufgenommen werden.
Wind und Sonne können dem Boden Wasser entziehen.»
Nach dem Pflügen wurde der Boden gewalzt – doch wenn die Aussaat verzögert wird, verdunstet wertvolles Bodenwasser. Ohne schützende Bedeckung ist der Boden Hitze und Starkregen ausgesetzt. Erosion zerstört, was über Jahre gewachsen ist.
Die regenerative Landwirtschaft schützt das Bodenleben durch ständige Bedeckung – etwa durch unmittelbare Begrünung nach der Ernte durch Zwischenfrüchte oder Untersaaten.

Wie macht regenerative Landwirtschaft einen leblosen Boden lebendig?
In der regenerativen Landwirtschaft ist das ein zentraler Punkt: «Eine ständige Bodenbedeckung schützt das Bodenleben. Der Weg dahin beginnt nicht mit Maschinen, sondern mit Pflanzen», sagt Vohwinkel.
Regenerative Landwirtschaft bringt den Boden Schritt für Schritt zurück ins Leben – mit fünf aufeinander aufbauenden Prinzipien:
Organisches Material zurückführen: Pflanzenreste, Kompost und Mulch – alles, was mikrobielles Leben ernährt – bleibt im Kreislauf. Der Boden wird nicht abgeerntet und leer zurückgelassen, sondern «gefüttert».
Zwischenfrüchte und Untersaaten: Statt nacktem Boden zwischen den Kulturen versorgen lebendige Wurzeln das ganze Jahr über die Mikroorganismen mit Zuckern und erhalten das mikrobielle Leben.
Flache, schonende Bodenbearbeitung: Keine tiefen Pflüge, keine Störung der Bodenstruktur. Die Pilzgeflechte wachsen weiter, Regenwurmgänge bleiben offen.
Mikrobielles Management: Effektive Mikroorganismen EM, Fermente und eine Flächenrotte (das gezielte Einarbeiten von Zwischenfrüchten kombiniert mit EM) aktivieren gezielt die Humusbildung. Die Bodenbiologie wird nicht dem Zufall überlassen, sondern gezielt angeregt.
Vielfalt statt Einfalt: Mischkulturen, weite Fruchtfolgen, Zwischenfrüchte und Untersaaten stabilisieren das Bodenleben. Denn jedes Mikroorganismus-Milieu braucht unterschiedliche Pflanzenimpulse.
«Es geht darum, den biologischen Kreislauf wieder zum Laufen zu bringen – statt nur Nährstoffe zu streuen», sagt Vohwinkel. «Ein belebter Boden ernährt die Pflanzen, reguliert sich selbst, spart Dünger und Pflanzenschutzmittel. Er ist die Zukunft.» Und diese Zukunft beginnt mit einem Spatenstich.
Video-Interview mit Axel Vohwinkel: Was bringt regenerative Landwirtschaft den Konsumenten?
Video-Interview mit Axel Vohwinkel: Was bringt regenerative Landwirtschaft den Landwirten?
Lehrgang für eine Landwirtschaft mit Zukunft
Grundlage dieser Reportage ist der «Kurs für eine Landwirtschaft mit Zukunft», der mit fünf Modulen von März bis November 2025 in der Region von Rafz/ZH durchgeführt wird. Organisiert wird der Lehrgang von Sven Studer, Experte für regenerative Landwirtschaft der JuckerFarm.
Führende Protagonisten der regenerativen Landwirtschaft unterrichten dabei LandwirtInnen aus Deutschland und der Schweiz. Nicht im Schulzimmer oder als Online-Kurs – sondern mit Erde an den Händen praxisgerecht auf Feldern in der Region.
Unterstützt wird die Serie über die regenerative Landwirtschaft von der Förderstiftung Avina.
Serie: Regenerative Landwirtschaft
Was ist regenerative Landwirtschaft und wie hilft sie der Bodengesundheit?
Mit der Nase im Acker – wie regenerative Landwirte den Boden lesen lernen
sowie:
Streit um die biologische, regionale und regenerative Landwirtschaft
… und bis Ende 2025 weitere Beiträge über die verschiedenen Aspekte der regenerativen Landwirtschaft.